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"Nehmen Sie sich ernst"

Nehmen Sie sich ernst

Ein Drittel aller Patienten, die wegen körperliche Beschwerden in die ärztliche Sprechstunde kommen, sei es beim Hausarzt, sei es beim Orthopäden oder auch beim Nervenarzt, leiden unter Krankheitsbildern, die nicht oder zumindest nicht in vollem Umfang durch die körperlichen und technischen Untersuchungsbefunde erklärt werden können.

Und das hat Gründe: wir sind keine Maschinen.

Manchmal hätten wir es ganz gerne so: da mal ein Kugellager austauschen, dort mal ein Ölwechsel: Und dann ist alles wieder gut: So ist es aber leider im Alltag nicht.

Wir stehen unter Stress. Wir machen Erfahrungen: schöne, leider auch manchmal sehr belastende, und es wäre eher verblüffend, wenn sich dies nicht in unserem Befinden, auch körperlich, niederschlagen würde.

Daher ist es für Ihren Arzt bei vielen Beschwerden besonders wichtig, nicht nur körperlich genau zu untersuchen, sondern auch die psychosozialen Umstände, in die Ihre Beschwerden eingebettet sind, zu berücksichtigen.

Denn häufig ergibt die körperliche Abklärung nur „Allerweltsbefunde“: Meist findet sich bei Schwindel und Kopfschmerzen (Gott sei Dank!) kein Tumor; die Untersuchungen der Wirbelsäule bei Rückenschmerzen erbringen zwar degenerative Veränderungen: wie sie halt fast jeder zweite ab einem gewissen Alter hat: Und jetzt?

Wenn es Ihnen so erging: Sie sind nicht allein!

In diesem Fall spricht man von z.B. von somatoformen Störungen.

Bei den meisten der hiervon Betroffenen sind Schmerzen das Hauptsymptom, aber auch Herz- oder Darmbeschwerden kommen vor, bei vielen ist es Schwindel: man geht davon aus, dass 25% aller Patienten, die sich in Praxen vorstellen, unter somatoformen Störungen leiden.

Eine kleine Vignette:

Der 53-jährige Manager stellt sich vor, nachdem er bereits hausärztlich, HNO-ärztlich, orthopädisch abgeklärt worden war. Er berichtet, dass er immer wieder einen heftigen Schwindel erleide, der "ihm fast den Boden unter den Füßen wegziehe". Man habe alles untersucht. Man habe bislang nichts gefunden. Die nun durchgeführte neurologische Abklärung inklusive der notwendigen Zusatzuntersuchungen, hier ließ der Untersucher eine Hirnstromkurve, also ein EEG und  so genannte akustische evozierte Potenziale ableiten zur Abklärung von Hirnfunktion, blieben unergiebig. Es fanden sich keine Herz-Kreislauf-Risikofaktoren. Beim ausführlichen Gespräch stellte sich heraus, dass der Patient nach sehr guten Absatzzahlen seiner Abteilung für eine Beförderung vorgeschlagen wurde. Zumindest für einzelne Schwindelattacken konnten Bezüge hergestellt werden wie anstehende Termine, in denen die beruflichen Herausforderungen besprochen wurden, manchmal trat der Schwindel in Situationen auf, in denen der Patient nur an die neuen Aufgaben dachte.

Er profitierte von einigen Informationen und Interpretationen:

Was dieser Patient hier erlebte, waren Symptome eines letztlich ganz normalen, physiologischen Vorgangs, was er zunächst selbst nicht auf Anhieb erkennen konnte. Wenn auch für einen Beobachter von außen manche Zusammenhänge recht nahe liegend zu sein schienen: für einen erfolgreichen Manager lagen sie nicht unmittelbar auf der Hand: Hier gab es Stress!

Dabei läuft in manchen Situationen eine ganz normale, physiologische Reaktion ab, die man früher Bereitstellungsreaktion nannte. Es passiert Folgendes: Unser Organismus ist natürlich ein Stück weit der Organismus eines Jägers und Sammlers. Unter Stress, vielleicht bei Bedrohung durch ein wildes Tier, aber auch z.B. bei Wahrnehmung einer Beute trimmt sich der Organismus auf eine körperliche Leistung, sei es für die Flucht vor einem Angreifer, sei es für die Jagd: jedenfalls rennt man los, klettert auf einen Baum: daher auch der Begriff Bereitstellungsreaktion: der Körper wird vorbereitet auf eine u.U. immense körperliche Belastung.

Unser Manager würde wahrscheinlich nicht gut bei seiner Umwelt ankommen, wenn er statt der Präsentation eines Vortrag erst einmal um das Bürogebäude rennen würde: Es wäre zwar eindeutig gesünder, aber möglicherweise sozial nicht ganz opportun. Tatsächlich erlebte unser Patient aber, dass sein Körper auf eine physische, also körperliche Leistung von seinem vegetativen Nervensystem eingestimmt wurde: der moderne Mensch, so also auch hier unser Manager, ruft dann aber die ‚bereitgestellte Energie’ wenn man so will nicht ab. Er rennt nicht los. Die Reaktion bei unserem Patienten war: Schwindel.

Viele der anderen psychosomatisch getönten Krankheitsbilder wie Spannungskopfschmerzen, chronische Rückenschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden, die leider ja oft chronisch werden, haben ebenfalls mit solchen physiologischen Mechanismen zu tun. Und vor allen Dingen: nicht immer sind die Zusammenhänge leicht zu entschlüsseln.

Eine Vielzahl von Faktoren im Alltag, in der Familie, im Beruf, insbesondere aber Erlebnisse in der Vorgeschichte von Betroffenen können diese Krankheitsbilder mit beeinflussen oder mit verursachen.

Am häufigsten verantwortlich sind psychische oder physische Traumatisierungen, häufig ist es der frühe Verlust eines Elternteils oder beider Eltern, chronischer Stress in der Ursprungsfamilie, z.B. häufiger Streit, die Alkoholerkrankung eines der Eltern, unsichere soziale Bindungsmuster, allgemeines Unglück, andere Faktoren, die mit der glücklichen oder weniger glücklichen Bewältigung von Stress zusammenhängen, z.B. die Tendenz, alles schwarz in schwarz zu sehen, sehr pessimistisch an das Leben heranzugehen.

All das „tut weh“. Ganz besonders wichtig ist aber, dass nun die Weichen zur Behandlung richtig gestellt werden:

Unser Manager aus der oben dargestellten Fallvignette schaute sich die Situation jetzt noch einmal zusammen mit therapeutischer Hilfe an. Er stellte fest, dass die neue berufliche Herausforderung für ihn fachlich zwar kein Problem darstellte, er aber einfach ein Stück weit Angst hatte, nun noch mehr durch die Arbeit aufgefressen zu werden. Perfektionismus, es jedem Recht machen zu wollen war unschwer erklärbar aus seiner bisherigen Laufbahn. Seine Eltern erwarteten von ihm seinerzeit schon in der Schule Einser, er hat im Studium versucht, immer Bestnoten abzuliefern. Er durfte jetzt aber erkennen, dass seine Familie mit dem bisher Erreichten völlig zufrieden ist, der Arbeitgeber akzeptierte aufgrund seiner Erfahrung verringerte Präsenz, Teile der Arbeit ließen sich mit home office bewältigen. Er hörte mehr auf seinen Körper, machte auch mal Sport und lernte auch so etwas über seinen Organismus: Er nahm den Schwindel ernst. Er wollte nicht Alles und Jedes über seine eigene Gesundheit stellen.

Und nicht anders verhält es sich mit vielen anderen Reaktionen des Körpers, die psychosomatischen Einflüssen unterliegen. Und hier ergeben sich Chancen.

Hier hilft bei Rückenschmerzen oftmals nicht der chirurgische Eingriff, hier hilft bei Schmerzen oftmals nicht die Schmerztablette oder das Morphium. Ganz entscheidend ist es, das Wechselspiel von körperlichen und seelischen Prozessen zu verstehen und auch wieder die Hoheit über die eigene Lebensgestaltung zurück zu gewinnen. Es ist normal, unter Stress Symptome zu entwickeln, es ist nicht Ausdruck von Schwäche. Es ist normal, eigene Interessen im Sinne eines "gesunden Egoismus" überhaupt erst einmal wahrzunehmen und durchaus auch einzufordern - und das will erst einmal gelernt sein. Viele der Patienten mit somatoformen Erkrankungen trauen sich nicht, sich ernst zu nehmen. Sie kennen Phasen der Unterdrückung, sie kennen Phasen, in denen sie ihr Selbstwertgefühl nur aus der Leistung für andere beziehen, sie sind immer erst für andere und dann erst für sich da: derartige Verhaltensmuster gilt es sich anzuschauen, wenn nötig zu überdenken und zu verändern, aber behutsam: was langsam kommt, das geht auch langsam.

Aber der richtige Schritt ist zunächst einmal zu verstehen, dass körperliche Beschwerden ganz entscheidend durch psychische Faktoren beeinflusst sein können und daher ist der wichtigste Grundsatz erst mal: Nehmen Sie sich ernst!

J. Saur